Was sehen wir?.
Sust Stansstad, Einführungsrede
Urs Bugmann, 16.04.2005
«Was sehen wir?», heißt die Grundfrage allen Sehens. «Was sehen wir?» ist die nahe liegende Frage vor jedem Bild, so auch vor diesen Malereien von Vera Rothamel. Aber hilft uns diese Frage auch wirklich weiter, bringt sie uns dorthin, wo wir hin wollen? Wir wollen ja nicht einfach wissen, was wir sehen, wir wollen darüber hinaus gelangen, wollen wissen, was wir mit dem Gesehenen anfangen sollen, was es bedeutet.
«Was sehen wir?» fragt nach dem Sichtbaren. Bilder machen sichtbar, doch liegt in ihnen auch mehr als dieses Sichtbare. Dieses Mehr, das Andere des Sichtbaren, bedarf des Sichtbaren, um sich zu zeigen. Was ist es, was sich zeigen will?
Bleiben wir beim Sichtbaren. In den Bildern von Vera Rothamel sehen wir Farbe, Farbe zunächst nicht einmal als Form, sondern als Materie. Wir sehen Farbe, die sich ausbreitet, die zerfließt, Rinnspuren zieht, Farbe, die sich in einer andern Farbe auflöst, Farben, die sich mischen und verschmelzen. Wir sehen, auch wenn der Prozess abgeschlossen, die Farbe erstarrt ist, Farbe in Bewegung. Denn im fixierten Endzustand des Bildes erkennen wir noch die Stufen seiner Entstehung, die Zwischenformen der Fließ- und Mischvorgänge, wir sehen Schichten, sehen das Nebeneinander von früheren und späteren Zuständen, und unsere Vorstellung sucht die dynamischen Vorgänge zu rekonstruieren, deren Ergebnis wir vor Augen haben. Denn mit diesem Ergebnis wollen wir uns nicht begnügen, wir sehen darin nicht das Tote und Abgeschlossene, sondern das Lebendige, dessen Charakter Wandel und Veränderung ist.
Vera Rothamel will uns im Grunde nicht Bilder zeigen, sondern uns ins Innere der Bilder hineinführen, sie will zeigen, wie und woraus Bilder werden. Nicht, um uns zu belehren, sondern weil das die Frage ist, die sie als Malerin umtreibt. Was geschieht im Innern der Bilder? Nicht so sehr das «Was wir sehen» ist es, dem ihr Fragen gilt, sondern das «Wie»: «Wie sehen wir?». Für die Künstlerin ist diese Frage gleichbedeutend mit der Frage danach, wie ein Bild wird.
In ihren neuen Malereien lässt Vera Rothamel der Farbe viel Freiheit. Sie wählt sie zwar, wählt die Kontraste und Klänge, wählt den Ort im Bild, wo sie sie aufbringt. Doch dann lässt sie der Farbe auch ein Stück Eigenleben. Sie dreht und wendet die Leinwände, lässt die Farbe rinnen und ineinander fließen, sich vermengen und vermischen. Die Konturen lösen sich auf, die Farbtöne verfälschen sich.
Es ist ein Spiel von Wille und Zufall, ein Spiel nicht aus Unverbindlichkeit, sondern als Forschung und Experiment. Wie das Bild zu seiner Sichtbarkeit findet, dies ist das Erkenntnisinteresse, das hinter dem Spiel steht. Diesem Interesse dienen auch die Makro-Aufnahmen, diese aus unmittelbarer Nähe fotografierten Detailsichten auf ihre Bilder, in denen die Künstlerin die Strukturen, Verwerfungen und Formfügungen sichtbar macht – als gelte es, wie in der Chaostheorie im scheinbar Ungeordneten die strenge Struktur, die Ordnung des Ungefügen zu entdecken. Und in der Tat zeigen diese kleinen, in der Vergrößerung offensichtlich gemachten Ausschnitte ein Abbild der großen Bilder. Das zeigt sich, wenn Vera Rothamel die Inkjet-Prints ihrer vergrößerten Makroaufnahmen neben die gleichformatigen Öltempera-Malereien hängt.
Wie Bilder werden und wie wir sehen, was sichtbar ist, diesen Fragen geht die Künstlerin in ihrer Arbeit schon lange nach. Nicht immer hat sie sich dabei so sehr ausschließlich auf die Farbe und Farbmaterie verlegt, wie in ihren jüngsten Malereien. Einige ältere Arbeiten, die wir hier auch sehen, thematisieren auf einer inhaltlichen Ebene die Bildschemen, an die sich unsere Vorstellung hält, die unser Sehen bestimmen und eingrenzen. Mittels Stempeln setzte Vera Rothamel Blumen- und Pflanzenmotive in ihre Bilder. Oder sie verwandte Strukturrollen, um Rasterungen zu erreichen – nicht als starres Muster, sondern in freier, von Norm und Regelmaß abweichender Abwandlung. Das Sichtbare zeigt übrigens auch hier sein Anderes, das Unsichtbare: denn das Raster verweist auf die Abweichung, die Abweichung auf die Regel. In den tieferen Schichten der neuen Bilder sind solche Rasterungen noch da und dort zu entdecken. Doch sie sind überlagert, geben nur mehr eine Grundfolie ab für die fließend darüber aufgebrachte Farbmaterie.
So wie Vera Rothamel Motive in ihre Bilder einbrachte, so suchen wir in diesen Farbereignissen nach den Motiven, nach Erkennbarem, mit dem sich an unsere alltäglichen Seherfahrungen anknüpfen ließe. Da sind wir wieder bei der Frage, was wir sehen. In den Antworten auf diese Frage lässt uns die Künstlerin und lassen uns ihre Bilder frei. Ihnen Bedeutungen beizumessen, in ihnen Elemente aus unserem alltäglichen Sehen zu finden, Zeichen aus unserem gewöhnlichen Sehvokabular zu entdecken, ist eine Möglichkeit, mit diesen Bildern umzugehen. Sie bieten in ihrer Fülle Stoff genug zu einer solchen Sicht. Und dennoch macht jeder dieser Versuche, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen, das Bild kleiner, als es ist, – und führt uns zu der Erfahrung, dass in dem Sichtbaren sich ein Unsichtbares zeigt. Das Sichtbare, sagt John Berger, «erzeugt […] den Glauben an die Wirklichkeit des Unsichtbaren».
Dieses Unsichtbare lässt sich als Stimmung und Atmosphäre oder als eine bestimmte Emotionalität erfassen. Wir werden uns aber bald eingestehen, dass mit diesen Atmosphären und Emotionen dasselbe geschieht wie mit den Farbmaterien, die sich mischen und vermengen. Die Dynamik, die wir als Bewegung im Bild wahrnehmen, als Prozess, den unsere Vorstellung rekonstruieren will, ergreift auch unsere Empfindungen und Gefühle. Es sind in keiner Weise statische Bilder, sondern Gefühls- wie Farbbewegungen. Es sind Bilder im Werden und im Sich-Auflösen, im steten Übergang zwischen Form und Formlosigkeit, zwischen heftigem Gefühl und Zärtlichkeit, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren.
Die Installation oben unter dem Dachgebälk kann diesen Übergang verdeutlichen, wenn wir lange genug zwischen den beidseitig aufgehängten Folien stehen und das Licht, das von der durchlässigen Farbe zugleich gefasst und verändert wird, auf uns wirken lassen. Was auf diesen Folien als Farbmaterie sichtbar ist, löst sich auf in die Unsichtbarkeit der Lichtatmosphäre. Das Farblicht, das sich von den durchsichtigen Farbträgern ablöst, schwebt im Raum, bis es wieder auf Gegenstände trifft, die es sichtbar einfärbt.
Solche Erfahrungen mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren lassen uns auch die großen Malereien von Vera Rothamel machen. Und während wir noch danach fragen, was wir sehen, erkennen wir, dass wir gleichzeitig damit beschäftigt sind, die Frage nach dem Wie unseres Sehens zu stellen. Wie stellen wir es an, dass wir im Sichtbaren zugleich das Unsichtbare sehen, wie entdecken wir im Gesehenen die Bedeutung – und das Sehen selbst?
Sehen, das zeigen uns die Malereien von Vera Rothamel, ist eine Erfahrung, die unseren Körper wie unsern Geist braucht und betrifft. Sehen formt uns als Sehende, wie es die Bilder im Sehen allererst verwirklicht. Nach dieser Verwirklichung im Wahrnehmen lassen uns diese Bilder fragen und nach ihrem Entstehen im Malvorgang. Das Sehen ist wie das Malen ein Spiel mit Wille und Zufall, eine Entdeckungsreise in unsere Wahrnehmung und Vorstellung. Sich auf dieses Spiel einzulassen, heißt über die Frage, was wir sehen, hinauszukommen und zur Frage wie wir sehen zu gelangen. Dahin führt uns Vera Rothamel mit ihren Malereien, zu einem künstlerischen Sehen, dem das Wie wichtiger ist als das Was.
Dieses künstlerische Sehen bedeutet auch – dem Malvorgang entsprechend, der sie entstehen ließ – in diesen Bildern uns selbst zu erfahren. Denn schon die Frage danach, was wir sehen, lässt sich ohne unsere eigenen Gefühle und Geschichten schlecht beantworten, jene nach dem Wie aber vollends nicht. Wir müssen uns zu unserem Sehen bekennen, sind vor diesen Bildern mit uns selbst konfrontiert. Das macht mit die Faszination dieser Malereien aus, die uns nicht bloß als Gegenüber begegnen, sondern uns mit unserem Sehen in sich hinein nehmen. Nun liegt es an uns, die Einladung anzunehmen, die Entdeckung zu wagen – und uns ein Stück weit zu verlieren. Wir können damit nur gewinnen.